Läuft in Indien. Lauffreunde haben mich auf diesen Event aufmerksam gemacht. Der Veranstalter hatte in den vergangenen drei Jahren Ultralauf Wettkämpfe in den Copper Canyons in Mexiko durchgeführt. Und jetzt, Ende Oktober 2019 in Indien. Warum nicht?! Ich war noch nie in Rajasthan. Eine bessere Gelegenheit gibt es kaum, als auf abgelegenen Wegen das ursprüngliche Land der Könige auf dem indischen Subkontinent zu erkunden. Was kann auf einer solchen Streckenlänge alles passieren? Gedanken, Gefühle, Selbstgespräche. Im Folgenden nur Auszüge vom Erlebten. Es war eine lange Reise. Durch ungewohnte Gegenden und vorallem in mich selbst.
Vorbereitung. Wie bereitet man sich auf solch eine lange Zeit in Bewegung vor? Ich gehe jetzt mal vorsichtig heran und nenne es nicht „Lauf“. Es ist im Voraus klar, dass die gesamte Strecke nicht im Laufschritt zu bewältigen ist. Damit muss man sich auseinandersetzen. Viel zu viele Unbekannte. Untergrund, Streckenführung, Topografie, Navigation, Wetter, Nahrungsverträglichkeit und viele Komponenten mehr spielen zusammen. Es ist ja schliesslich kein Strassenmarathon. Bin da den Tipps und Tricks von Igor und Stephan dankbar. Die sehr erfahrenen Ultraläufer standen mir Rede und Antwort und haben mir mit ihren Ratschlägen offene Fragen beantwortet. Die Auseinandersetzung mit dem Event beginnt also bereits lange vor der Anreise. Im Detail heisst das: Ich habe mich seit Juni damit beschäftigt.
Dazu kommt natürlich die physische Vorbereitung. Hier vertraue ich seit Jahren der Trainingsplanung von KS-SPORTSWORLD. Der Körper fühlt sich gut an und ist vom letzten Test bei den 24h von Brugg/CH Ende September wieder gut erholt. Eine Reizung in der Leiste, die mich seit einem Fussballspiel gegen junge Mönche in Bhutan im Mai beschäftigt, ist noch nicht ganz ausgeheilt. Daran nicht zu denken, wird eine grosse Rolle im Wettkampf spielen.
Ein letzter Check vor der Abreise bei Christian von Getup, dem Physiotherapisten meines Vertrauens in Zürich. Alles gut. Kann los gehen. (Das Thema Vorbereitung ist natürlich noch viel komplexer…)
Auf nach Rajasthan. Ein neues Abenteuer in Indien beginnt. Am Flughafen in Delhi werde ich bereits von anderen Läufern angesprochen. Mit Laufrucksack und Laufschuhen ist man schnell geoutet. Und sofort die Fragen: Wie viele Stunden ich plane zu laufen für die 250 Kilometer? Ob ich schlafen will zwischendurch? Was ich schon so alles an Läufen gemacht habe in meinem Leben? Mir wird schnell bewusst, hier habe ich es mit Profis zu tun. Es sitzt mir niemand geringeres gegenüber als Christian Ginter. Rekordhalter mit den meisten Marathon des Sables Teilnahmen. Bei 34 Austragungen des berühmtesten Wüstenlaufes war er 32 (!) Mal am Start. Und neben ihm sein Sohn Anthony. Einer der Siegkandidaten für den Lauf hier. Endlich wieder normale Menschen um mich herum…
Erste Station unseres Trips ist Udaipur. Ehemals Hauptstadt des Reiches Mewar ist Udaipur für seine prunktvollen Paläste bekannt. Nicht weniger als elf gibt es davon in der Stadt. Die Maharajas haben baulich hier nicht gekleckert. Zum Besichtigen reichen uns zwei. Es ist Diwali, das Lichterfest in Indien. Vergleichbar mit unserem Weihnachten, vom Stellenwert her. Die sonst schon gut besuchten Sehenswürdigkeiten werden überschwemmt von Menschenmassen. Das Gedränge in den engen Gängen der Bauwerke ist alles andere als lustig. Erstaunlich viele ausländische Touristen trifft man in Udaipur an. Ein Sprachenmix aus aller Welt. Scheint wohl bei Indienbesuchern sehr beliebt zu sein. Ich habe vorher zumindest noch nie etwas von dem Ort gehört. Aber genau das macht Reisen ja aus. Offen und neugierig durch die Welt ziehen und den Horizont erweitern. Hilft dann auch manchmal, zu Hause Dinge besser zu verstehen.
Am Nachmittag dann das Racebriefing. Auf Französisch. Die Veranstalter sind Franzosen und 99% der Teilnehmer französischsprachig. Ausser einem. Bislang scheiterten bei Schulbesuchen jegliche Bemühungen von Lehrpersonen, mir diese Weltsprache beizubringen erfolgreich. Aber Trailläufer sind ja eine friedliche Gemeinschaft. Ein Gegeneinander gibt es nicht. Man hilft sich. Die wichtigsten Informationen bekomme ich von Laufkollegen übersetzt.
Im Hotel hängen Bilder vergangener Tage. Hauptsächlich Männer mit prächtigen Schnurrbärten und Turban. Der gilt hier als Statussymbol. Auf einem Bild eine Gruppe mit einem getöteten Tiger. Nach Jahren des skrupellosen Abschlachtens läuft seit 30 Jahren ein Programm zum Schutz des Wappentiers Indiens. Teils mit Erfolg. In Rajasthan hat sich die Anzahl in den letzten 15 Jahren mehr als verdoppelt. 85 Tiger wurden gezählt. Aufzuhalten wird das Aussterben in dem bevölkerungsreichen Land aber kaum sein. Der Mensch drängt die Tiere immer mehr in die Nationalparks zurück. Und hier sind die Überlebenschancen eingeschränkt. Nicht ausreichend Futter.
Darin sind wir uns einig: als Tigerfutter möchte hier niemand enden. Schnell genug laufen? Nachts pausieren? Wann Pausen machen, was essen? Die Anspannung ist spürbar. Vor solch einem Laufabenteuer haben alle Respekt. Zur Streckenlänge kommen viele unbekannte Faktoren. Die Temperaturen waren in den vergangenen beiden Tagen überraschend moderat. Das soll sich ändern. Wir erwarten typisch indisch heisses Wetter tagsüber. Einige sprechen von aufziehenden Gewittern vor dem Wochenende. Wir müssen auf vieles gefasst sein.
Eine weitere Unbekannte ist die Streckenmarkierung. In der vergangenen Woche wurden Markierungen angebracht. Mittels Spray auf Steinen, an Bäumen und Lichtmasten. Markierungsbänder weisen den Weg. Allerdings sind besonders die reflektierenden, in der Nacht sichtbaren bei den Kindern sehr beliebt. Wir lassen uns überraschen. Für Notfälle hat jeder die Route als GPS gespeichert. Und: was sind schon ein bis zwei Stunden, die man mal für die Wegfindung aufwenden muss, bei einem Cut Off von 108 Stunden.
Das ist ein weiterer Punkt: wie lange kann man den Körper bei Laune halten? Also wach. Macht es mehr Sinn, ab der ersten Nacht kurze Schlafpausen einzulegen und «erholt» den Weg fortzusetzen? An den Checkposten etwa alle 20-30 Kilometer liegen Matratzen bereit. Verlockend. Das lasse ich auf mich zukommen. Die erste Nacht wird nicht geschlafen. Das sollte drin liegen. Alles was danach kommt, wird situativ entschieden. Wie weit bin ich bei Einbruch der zweiten Nacht? Wie fühlt sich der Körper an? Hat die Ernährung bis hierhin funktioniert und habe ich genug Energie? Wie war die Koordination mit Stirnlampe während der ersten Nacht? Vergleiche zu vorangegangen Rennen können helfen. Allerdings sind die Umstände jedes Mal anders. Also nicht zu viele Gedanken machen im Vorfeld. Da bin ich tiefenentspannt.
Es gibt noch viele unbekannte Faktoren. Diese in der entscheidenden Situation richtig zu beantworten ist ein grosser Teil des Erfolgsrezepts für ein Überqueren der Ziellinie. Der innere Dialog muss stimmen.
Der Tag vor dem Wettkampf. Morgen früh um 7 Uhr enden alle Spekulationen. Dann geht’s zur Sache. Wieder das tun, wozu wir geboren sind. Laufen. Ich freu mich drauf!
Die letzte Nacht verbringen wir im Ghanerao Castle. Betreiber des Hotels sind Nachfahren des Maharajas. Früher gab es in Indien etwa 600 «Fürstenstaaten». Nur der Herrscher der grössten durften sich Maharaja (Grosskönig) nennen. Es ranken sich wilde Geschichten um die ehemaligen Herrscher des indischen Subkontinents. Zur Belustigung haben sie Elefanten oder Tiger Schaukämpfe austragen lassen. Und ein Harem konnte gut auch schon mal 200 Damen beherbergen, die dann bei Staatsreisen nach Delhi auch alle im Schlepptau waren. Unter Männern: Ist manchmal nicht eine schon genug…?
Es folgen die finalen Vorbereitungen. Packen des Rucksacks. Anständig essen. Viel Flüssigkeit aufnehmen. Und das Schönste an Ausdauerwettkämpfen: erholen, relaxen, mit den anderen Läufern rumhängen. Noch ein kurzes Läufchen, um die Beine durchzubewegen nach dem langen Sitzen in Flugzeugen und Bussen (die Anreise dauerte gesamt über 24 Stunden). Ich nutze die Gelegenheit und schaue mir die letzten Kilometer bis zum Ziel an. Wir haben hier die komfortable Situation, dass Start und Ziel am gleichen Ort liegen. Das Castle von Ghanerao soll eine eindrucksvolle Kulisse für das Finale bilden. Der Weg durch den Ort auf der Hauptstrasse bis zum Abzweig in den Marktbereich vorbei an den kleinen Shops mit geschäftigem Treiben und allerlei Kühen, Hunden, Schweinen und natürlich den Einwohnern des verschlafenen Städtchens brenne ich bereits jetzt auf die Festplatte. Ein weiterer Baustein für ein erfolgreiches Finish. Visualisieren.
Am Abend dann noch das abschliessende Briefing mit den letzten Informationen. Der Veranstalter Jean-François Tantin weist auf spezielle Situationen am Streckenverlauf hin. Was für Untergrund uns erwartet. Besonderheiten bei Abzweigen. Oder aber auf Flussdurchquerungen und und und. Zu viele Informationen. Ich habe bereits auf Erholungsmodus umgestellt. In der letzten Nacht vor einem Wettkampf schlafen viele unruhig. Ich kann da jeweils gut abschalten und würde ohne Wecker den Start verpassen.
Wettkampf. Los geht’s. Pünktlich 7 Uhr am Halloween machen sich ein paar Verrückte (Anmerkung der Redaktion: Aussenstehende würden uns so betiteln – wir sind aber voll und ganz überzeugt, die einzig Normalen zu sein!) auf eine unbekannte Reise. Ohne dabei jemanden einen Schrecken einjagen zu wollen. Ziel ist, nicht selbst von irgendwelchen halloweenartigen Gestalten aus der Bahn geworfen zu werden. Den Halluzinationen bei Ultraläufen sind keine Grenzen gesetzt.
Die ersten acht Kilometer auf Strassenbelag verfliegen (keine Angst, ich protokolliere hier nicht die gesamten Kilometerzahlen…). Eine kleine Gruppe von fünf Läufern hat sich schnell abgesetzt. In den Gesprächen der letzten Tage haben sich für mich Emanuel, Anthony, Véro und Olivia als Favoriten herauskristallisiert. Dazu kommen natürlich noch einige Unbekannte. Und ja, die Frauen soll man bei solch einem langen Backen nicht unterschätzen. Leidensfähiger als männliche Weicheier hat Véro in vergangenen Wettkämpfen bereits einige Male ALLE Kontrahenten hinter sich gelassen. Bei unserem letzten gemeinsamen Wettkampf gewann sie die 100km beim Run the Rann in Indien mit EINER Stunde Vorsprung vor dem ersten Mann (ich bin damals zum Glück über die 100 Meilen Distanz gestartet…
Zum Split der Gruppe kommt es am Eingang in ein Naturreservat. Die Mädels lassen etwas abreissen. Das Tempo von Emanuel und Anthony scheint mir zu vorsichtig. Sie sind beide sehr erfahren. Was haben sie vor? Haben sie sich abgesprochen, mich fertigzumachen? Soll ich Tempo machen und sie beobachten das mit etwas Abstand? Ich bin hier der Underdog und der einzig nichtfranzösischsprachige Teilnehmer. Ich verstehe längst nicht alles, was mich an Silben den lieben langen Tag hier umgibt. Positiv denken. Auf mich fokussieren. So beschliesse ich die Flucht nach vorn. Ich brauche Ruhe und Einsamkeit, um meinen Rhythmus zu finden. Durch Affenherden haben ich die beiden immer noch hinter mir. An einem Anstieg lasse ich sie dann stehen. Bereits nach ein paar Minuten sehe ich niemanden mehr hinter mir. Und vor mir. Im nächsten Ort verliere ich irgendwie die Streckenmarkierung. Warte auf die Zwei und wir navigieren zusammen ein Stück. Dann bin ich wieder allein.
So erreiche ich den ersten Checkposten als Führender. Wenn es dafür einen Pokal gäbe! Zählt aber so viel wie die goldene Ananas. Bis dato sind gerade mal 34 Kilometer geschafft. Die Länge zwischen den Checkposten stellt bei dem Wettkampf hier eine Besonderheit dar. Zwischen 24 und 34 Kilometer sind ohne Support vom Veranstalter zu bewältigen. Wir müssen eine minimale Wasserkapazität von drei Litern mit uns tragen können. Und das soll auch notwendig sein, wie sich später noch herausstellt.
Nächste Etappe ist das Fort Kumbhalgarh. Eine Festung, erbaut vom Rana (Herrscher) von Mewar im 15. Jahrhundert. Die Dimensionen der Anlage sind unglaublich. Allein 360 Tempel wurden gezählt, aber auch ehemalige Wohnhäuser und natürlich der Fürstenpalast. Überraschend viele Touristen tummeln sich vor dem Eingang. Es gibt Stau zu den Parkplätzen. Liegt wohl am Diwali. Es ist schulfrei. Schnell schlängle ich mich durch das indische Verkehrschaos mit Gehupe und Gedränge. Das ist Teil des Landes und der Kultur. Dafür bin ich aber nicht hergekommen. Also weiter auf dem Weg. Der anspruchsvollste und kraftraubendste Teil der gesamten Strecke folgt. Das weiss ich aber erst 3.5 Stunden später. So lange habe ich für die 14 Kilometer auf der Mauer rund um die Festung benötigt. Ja, ihr habt richtig gelesen. Schnell vorankommen ist anders. Die sehr gut erhaltene Befestigung erinnert an die chinesische Mauer. Zinnen mit Schiessscharten zur Aussenseite, nach innen oft den Blick auf den mächtigen Fürstenpalast freigebend, geht es über steile Stufen dem Gelände angepasst auf und ab. Die Stufe sind mit langem dürrem Gras bewachsen. Hier kommt in der Regel kein Festungsbesucher hin. Oft bleibe ich stehe und schaue dem Ziel scheinbar senkrecht über mir entgegen. Die Frage, wie es die Laufveranstalter immer wieder schaffen, solche Killer in die Strecken einzubauen, wird mich auf dem Streckenverlauf noch öfters beschäftigen. Ich habe Wasser für 14 Kilometer dabei. also für etwa zwei Stunden, merke aber schnell, dass ich damit haushalten muss. Wasserdesinfektionstabletten sind auch irgendwo im Rucksack. Nützen aber hier nix. Wie bei uns in Mitteleuropa waren die indischen Herrscher clever und haben ihre Burgen hoch über dem umliegenden Land platziert. Ein hervorragender Blick auf das Harzvorland, die Eiffel oder den Thüringer Wald bietet sich. Erste Halluzinationen? Nein, es sieht tatsächlich so aus. Kenne ich bislang von Indien noch nicht und überraschend mich. Vielfältiges Rajasthan!
Zurück am Checkposten (dieser Teil der Strecke war ein Rundkurs) wird erstmal Wasser aufgefüllt. 30 Minuten in der brutalen windstillen Mittagshitze ohne Flüssigkeit haben mich ganz schön ausgezehrt. Der Halt dauert aber nicht lange. Da ich immer noch in Führung liege und es mir bestens geht, beschliesse ich, mich schnell auf den Weg zum nächsten CP (Checkposten) zu machen. Im Hinterkopf eine alte Ultralauf Regel: keine Angst, wenn es dir gutgeht, das geht vorbei… Die zwei Kilometer durch den immer noch anhaltenden Verkehr auf der Strasse bergab ins nächstgelegene Dorf vergehen schnell. Jetzt nur den Abzweig auf den Trail nicht verpassen. Jean-Francois hat mir am Checkposten eingebläut: „Ein paar hundert Meter nach der Kreuzung zweigt die Strecke rechts ab auf den Trail“. Hinter parkenden Autos habe ich den Markierungspfeil entdeckt. Super. Weg von dem Lärm. Rein in den Dschungel. Aber halt! Wo sind meine Stöcke? Aus Respekt vor der Streckenlänge und in Anbetracht der vielen Ungewissheiten habe ich in letzter Minute beschlossen, Traillauf-Stöcke mitzunehmen. Die waren doch zusammengefaltet rechts und links in meinen Händen. Ich muss nicht lange überlegen. Die stehen am CP2 am Tisch. XXX(Schimpfwort) und nochmal XXX(Schimpfwort) und nochmal. Laut. Ich brauche die Dinger… Was tun? Zurück? Wieder bergan, den anderen entgegen?! Ich versuche einen Taxifahrer zu überzeugen, sie mir zu bringen. Er macht mir klar, dass es aufgrund des Verkehrs länger dauert, wenn er fährt, als ich laufe. Verstehe. Die Gehirnzellen funktionieren noch. Sind ja auch erst 51 Kilometer um. Telefon raus und Jean-Francois anrufen. Als Veranstalter betreut er die ersten Läufer persönlich und ist sicher noch am CP. Tatsächlich. Er verspricht mir die Carbon Dinger, die nicht allzu oft zu Einsatz kommen, zum nächsten Checkposten mitzunehmen. Die erste richtige Trail-Etappe muss ich also ohne Stöcke absolvieren. Auch kein Problem. Lerne: Krisenmanagement. Positiv an Dinge herangehen. Auf dem folgenden Waldstück zerschneide ich mir die Arme und Beine derart, dass ich blutbeträufelt am CP3 ankommen. Bereits von weitem sehe ich Jean-François mit meinen Stücken winken. Jetzt kann nichts mehr schief gehen. Dachte ich.
Wasser heiss und kalt steht an den Checkposten bereit. Und ein Zelt, für alle, die schlafen oder sich ausruhen wollen. Es ist später Nachmittag und ich habe die erste grosse Mahlzeit geplant. Pasta Carbonara. Gefriergetrocknet. Heisses Wasser darauf und zehn Minuten später ist das Mahl aus dem Zipplock Beutel geniessbar. Und tatsächlich geniessbar. Ich will aber nicht so lange warten und nehme den Beutel mit auf den Weg. Während ich straff weitermarschiere, versuche ich, so viele wie möglich der 600 Kalorien, die die gesamte Mahlzeit bietet, zu mir zu nehmen. Warum lange am Checkposten aufhalten. Es ist noch eine weite Strecke bis zur Zielflagge. Und die ist das Einzige, was ich im Kopf habe.
Ein paar Kilometer später treffe ich auf einen Fluss. ich versuche mich zu erinnern an Jean-François Worte: „Flussaufwärts, immer wieder mal durch den Fluss rechts und links.“ Ich will auf jeden Fall so viel wie möglich davon bei Tageslicht hinter mich bringen. Die Sonne geht um 18.30 Uhr unter. Es ist jetzt 17 Uhr. Nach etwa 20 Minuten überlege ich, wann ich den letzten Markierungsstreifen oder aufgesprühten Pfeil gesehen habe. Kann mich nicht erinnern. Also Handy raus. Auf MapsMe ist die Strecke hinterlegt. Ich wollte das nur in Notfällen benutzen. Und jetzt, weit weg vom eigentlichen Weg ist das wohl einer. Ich bin anstatt flussaufwärts flussabwärts gelaufen… Anfängerfehler. Und dann gleich noch einer. Ich versuche von hier aus nicht zurück zum letzten erkennbaren Punkt der Strecke zu gehen, sondern will direkt durch Dornenbüsche abkürzen. Sinnlos. Ich muss zurück und dem normalen Streckenverlauf folgen. Dieser Fehler kostet mich etwa eine Stunde. Am Checkposten 4 komme ich so erst im Dunkeln an. Véro sitzt bereits da und fragt mich, wo ich war. Mhhhh. Wenigstens ist sie die Einzige, die mich dabei überholt hat. Emanuel und Anthony sind hinter mir. Anthony hat sich auf den Treppen der Mauer den Knöchel verstaucht und kommt nur langsam voran. Oh nein. Emanuel ist bei ihm geblieben bis zum nächsten CP. Das macht die Trailläufer aus: ohne Eigensinn dem Konkurrenten helfen.
Ich beschliesse, hier eine Pause von 20 Minuten zu machen. Véro will weiter, sucht aber noch einen Kompagnon für die anstehen Kilometer in der Nacht. Schnell trifft Emanuel ein. Und Anthony. Dazu hat sich Vincent gesellt. Er wollte mit seinem Laufkollegen William die Strecke bewältigen. Der ist aber bereits mit Hitzeproblemen ausgestiegen. Von Olivia keine Spur. Die wird uns nach dem Rennen schildern, wie sie in diesem Bereich der Strecke auf zwei Geparden gestossen ist. Ein anderer Teilnehmer auf eine Cobra. Ja, wir sind hier im indischen Dschungel. Ist nicht der New York Marathon. Das war aber jedem Beteiligtem vor dem Start klar.
Nach 20 Minuten mache ich mich wieder auf den Weg. Véro ist mit Emanuel bereits lange weg. Die beiden sind meine Favoriten und ich bin mir ziemlich sicher, sie bis zum Ziel nicht wieder zu sehen.
Die Strecke bis zum nächsten CP ist mir vollkommen verloren gegangen. Besonders in der Nacht ist es schwierig, zu navigieren und sich an Fixpunkte zu erinnern. Ich erreiche CP4 um drei Uhr in der Nacht und beschliesse, hier eine Schlafpause einzulegen. Die anderen Läufer um mich herum wollen die erste Nacht durchlaufen. Das hat mich dazu bewegt, meine geplante Strategie zu ändern. Ich will in der ersten Nacht eine längere Pause einlegen. Zwei Stunden gönne ich mir auf der Matratze im Zelt im mitgebrachten Lightweight Schlafsack. Wollig warm. Energie tanken. Dabei hat mich Vincent überholt. Sozusagen im Schlaf. Als ich aufwache, bin ich auf dem 4. Platz. Pünktlich fünf Uhr bereite ich mich auf den kommenden Tag vor. Stirnlampen im Rucksack versorgen, T-Shirt wechseln, warme Jacke weg. Und weiter geht’s in die Tribal Zone.
Wir sind gewarnt worden vor diesem Bereich. Die Ureinwohner dulden keine Eindringlinge in ihr Gebiet. Was suchen wir auch hier? Die Menschen leben ihren Rhythmus. Arbeiten auf den Feldern, kümmern sich um die Tiere. Die Kinder rennen erschrocken weg, wenn sie mich sehen. Ein Junge (etwa drei bis vier Jahre alt) bleibt wie angewurzelt stehen und beginnt lauthals zu schreien/weinen, als ich an ihm vorbeilaufe. Er kann mit der Situation nicht umgehen. Das ruft natürlich Gedanken hervor. Müssen wir wirklich bis zu den letzten Einwohnern unseres Planeten vordringen, um ihnen Kompressionssocken und hautenge Leggings zu präsentieren? Ich bin da oft hin und her gerissen. Es ist andererseits auch eine Chance, um mit den Menschen dort Partei zu ergreifen. Nicht selten sind sie von der Regierung vergessen und leben vom Allernotwendigsten. Die Uhr lässt sich nicht zurückdrehen. Wir sind eine Gemeinschaft auf unserem Planeten und dürfen die Augen vor Randgruppen nicht verschliessen. Das wird dir einfach zu Hause auf der Couch nicht bewusst. Da muss man schon mal die Komfortzone verlassen und sich mit wachem Hirn ein Bild von der Realität machen.
In einem Dorf treffe ich auf eine Gruppe Männer an einem Tee Shop. Was soll’s?! Hier durch die Botanik rennen im Kampf gegen die Uhr/Gegner/den inneren Schweinehund u.v.m. und alles rechts und links liegen lassen, will ich nicht. Ich bin doch hier, um das Land kennen zu lernen. Also stopp. Schnell komme ich mit ihnen ins Gespräch. Ehe ich mich versehen kann, habe ich einen Masala Chai Tee in der Hand. Ein paar von ihnen reden englisch. Wo ich herkomme und hinwill? Zu Fuss? Warum? Sie bieten mir eine Fahrt im Geländewagen an. Und ich soll doch auch etwas essen. Da bin ich vorsichtig. Ich habe ja schon einen Saumagen durch das Reisen. Aber überstrapazieren möchte ich ihn auch nicht. Noch ein zweiter Tee. Der tut gut. Die Milch ist noch echte Kuhmilch. Fett. Das schmeckt man. Gibt Kraft. Dann verabschiede ich mich. Ich darf nicht gehen, ohne das obligatorische „Selfie“ gemacht zu haben. Das hatte ich bereits gestern und es wird mich auch noch weiter bis ins Ziel begleiten. Die Leute wollen in Bild. Es hat ihnen aber keiner gesagt, dass man ein Selfie SELBER machen muss. Also reihen wir uns alle auf. Mittlerweile sind auch noch Frauen dazu gekommen. Einer aus der Gruppe erklärt sich bereit, das Bild zu machen. Und fertig ist das Selfie. Etwa zwanzig Leute darauf aus einem Abstand von fünf bis sechs Metern aufgenommen. So einen langen Arm hat kein Mensch.
Am CP6 erklärt mir Jean-François, dass Véro 45 Minuten und Vincent nur 15 Minuten vor mir liegen. Bis Platz zwei ist also alles möglich. Nach hinten habe ich mir ein beachtliches Polster von einem kompletten Checkposten geschaffen. Das sind gut vier Stunden. Der Blick ist also nur nach vorn gerichtet. Das motiviert zusätzlich zur aufkommenden Sonne. Die wird zwar wieder brutal heiss, aber besser als in der Antarktis rennen…
Irgendwann taucht eine Fata Morgana vor mir auf. Auf einer welligen Strasse erkenne ich von Weitem einen Läufer. Oder denke zumindest, es erkennen zu können. Ich komme der verschwommenen Silhouette immer näher. Es ist Vincent, der mit sich kämpft. Wir tauschen schnell ein paar Floskeln aus und ich lege das Pokerface auf. Muss ihm klarmachen, dass ich mich unglaublich stark fühle. Das ist natürlich nicht der Fall. Das weiss er aber nicht. Psychospielchen. Schnell ist er aus meinem Blickwinkel verschwunden. Der nächste Checkposten ist für mich nur schwer zu finden. Verlaufe mich abermals und erreiche den Hof mit Müh und Not (wieder zu wenig Wasser). Bin aber nicht tod. Was sehen meine Augen da voller Überraschung: Véro ist am CP und… Emanuel. Der Führende. Wieder was gelernt. Je länger die Strecke, desto unberechenbarer. Er ist aber schnell wieder weg. Nur Véro versucht mich in Anbetracht der hereinbrechenden zweiten Nacht zu überzeugen, mit ihr zu gehen. Ich will mich aber unbedingt erst richtig verpflegen. Nach ein paar Minuten trifft Vincent ein. Er will ebenfalls nicht lange pausieren und die beiden gehen gemeinsam los. Sie haben noch keine Minute geschlafen. Wir sind jetzt in Stunde 36 des Wettkampfs.
Ohne Stress gehe ich kurze Zeit später auf den Weg. Ich nehme das Handy mit der Route jetzt öfter zur Hand. Brauche keine extra Kilometer mehr. Auf direktem Weg zum Ziel. Das ist der Plan. Und ich will meine Erholung aus der vergangenen Nacht nutzen und ohne grosse Pause durchziehen. Das spornt an. Ich kann schnell wieder zu den beiden vor mir Laufenden aufschliessen. Es ist bereits stockdunkel. Sternenklar. Kaum Störlicht. Der Mond wiegt sich als hängende Sichel vor mir am Horizont. „Lauras Stern, Lauras Stern“, summt es in meinem Kopf. Kommen die ersten Hallus? Nein, beim Laufen kommen mir je nach Situation immer wieder Lieder in den Kopf. Die können dann über Stunden helfen, die Zeit zu vergessen. Das sind Songs wie One Foot von Walk the Moon oder Rockabye von Clean Bandit. Nur nichts Tiefgehendes. Wieder lasse ich die zwei zurück. Wenn ich in Bewegung bin, rollt’s. Das muss ich nutzen. Fühle mich gut. Ok, etwas müde vielleicht auch schon.
Etwas ist leicht untertrieben. Man neigt dazu, die Dinge für sich selbst herunterzuspielen. Habe ich den Stein jetzt übersehen, als ich darüber gestolpert bin? Nein, alles gut. Bin ich jetzt neben dem Trail im Gras gelaufen? Nein, sicher nur ein falscher Tritt. Hatte ich jetzt während der letzten Schritte die Augen geschlossen? Ich muss mir eingestehen, es geht nix mehr. Ich schlafe beim Gehen ein. Bin hier irgendwo mitten im indischen Urwald. Um mich herum Nacht. Kein Licht weit und breit. Die Gefahr, jetzt Fehler zu begehen und sich zu verlaufen ist gross. Ich sehe einen grossen Stein etwas neben der Strecke und lege mich darauf. So wie ich bin. Mit Rucksack am Rücken. Nur ein paar Minuten ausruhen. Nur kurz mal die Beine entlasten. Es ist noch angenehm warm. Eine ganz leichte Brise streift über die Wangen. Das Leben kann so schön sein.
„Maik“, und nochmal „Maik“ höre ich im Schlaf. Oder nein, das ist Realität. Véro und Vincent haben mich entdeckt und wollen, dass ich mit ihnen komme. „Gebt mir nur noch ein paar Minuten. Es ist grad so entspannend.“ Und schon sind sie wieder verschwunden. 45 Minuten später schrecke ich auf. Wie spät ist es? Ich wollte doch nur ein paar Minuten dösen. Habe das Zeitgefühl total verloren. Ist Abend oder Morgen? Wo bin ich? Der Puls schnellt hoch. Adrenalin fährt mir durch den Körper. Es braucht etwas, bis ich mich gefangen habe. Weiter, weiter. Wo sind die zwei Mitstreiter? Jetzt habe ich sie für immer verloren. Schnellen Schrittes komme ich voran. Bei einer Flussdurchquerung mit dicken grünen Algen habe ich wieder den falschen Abzweig genommen. Den kleinen Pfad, der sich das Ufer hoch schlängelt, total übersehen. Das reicht jetzt aber. Ich muss mich besser konzentrieren. Die Schlafpause hat mir ungemein Auftrieb gegeben. Ich pusche hart. Eine lange flache Gerade liegt vor mir. In weiter Entfernung ein Dorf. Links am Horizont muss wohl eine Autobahn sein. Lichtkegel rasen durch die Nacht. Ich aber bin allein hier. Hundegebell schallt mir vom Dorf entgegen. Bislang konnte ich jeden Kontakt zu den unzähligen Strassenködern vermeiden. Musst nur gut mit ihnen kommunizieren. Es geht im Zickzack durch den Ort. Ein paar Minuten später bin ich bereits wieder draussen in der Natur.
Der längste Tag des Lebens hat 52 Stunden. Knapp unter 40 Stunden hier draussen. Mit nachlassender Energie nimmt auch die Konzentration ab. Ich sehe Licht von hinten an mich herankommen. Erkenne das Duo Véro und Vincent. Sie haben sich verlaufen und sind jetzt wieder auf dem richtigen Weg. Kurzer Smalltalk. Sie wollen, dass ich schon losziehe. Beide sind angeschlagen. Véro hat sich Blasen gelaufen. Ich bin nach meinem „Dschungel-Nap“ gut erholt und kann mich locker von Ihnen absetzen. Der Veranstalter empfiehlt, in der Nacht zusammen zu bleiben. Bisher lief es gut für mich und ich sehe da keine Notwendigkeit. Vor uns liegt ein schwieriger Part, wie sich gleich herausstellen soll. Es geht an Kanälen entlang. Die Route führt über einen Staudamm. Bei der Recherche auf Google Earth im Vorfeld sah das recht easy aus. Jetzt aber stehe ich vor einer Dornenhecke. Der Ausdruck ist leicht untertrieben. Um mich herum 3 bis 4 Meter hoch Buschwerk, Bäume, Dornen. Wie entgeistert renne ich von einer Ecke in die andere. Wie ein angeschossenes Wildschwein. Es gibt keinen Ausgang. Ich bin umzingelt. Panik macht sich breit. Im ausgeruhten Zustand hätte ich hier Ruhe bewahrt. Jetzt aber schnellt mein Puls nach oben. Ich komme mir vor, wie in einem Computerspiel. Jemand hat eine Hecke um mich herum wachsen lassen. Wie bin ich hier hereingekommen? Das Raumgefühl ist mir verloren gegangen. Von der Festplatte gelöscht. In Entfernung sehe ich die Stirnlampen der beiden Nachfolger. Ich schreie. Bekomme auch Wortfetzen zurückgeworfen. Höre nur „hier, hier“. Das kann ich sehen. Aber wie dort hinkommen. Es klingt vielleicht einfach, die Büsche beiseitezudrücken und sich einen Weg zu verschaffen. Ich war aber in dem Moment so gefangen in mir selbst, dass ich keinen Ausweg sah. Gefühlt eine Ewigkeit brauchte ich, bin ich klare Gedanken fassen konnte. Ich fand die entscheidende Lücke. Nach dem Wettkampf haben wir noch oft über die Situation gelacht.
Die fehlenden Kilometer bis zum nächsten Checkposten sind wir zusammengeblieben. Ich taumelte zwischen Wach und Schlaf. Immer wieder mal ein Querschritt zum Stabilisieren. Brauche nochmal eine Mütze Schlaf. Das muss ich beim nächsten Mal besser trainieren. Funktionieren bei Schlafentzug. Ich schlafe gern und lange. Der Körper braucht die Ruhephasen. Bei so einem Wettkampf wie heute ist das aber nicht gefragt. Also nochmal 30 Minuten auf die Matte. Die Augen fallen sofort zu. Als der Wecker klingelt bin ich hellwach. Vero versorgt ihre lädierten Füsse. Sie kann nicht schlafen. Vincent schläft tief und fest. Ich habe nicht mal die Schuhe ausgezogen. Also noch gar nicht seit dem Start. Will nicht wissen, wie es im Socken aussieht. Fühlt sich ganz gut an. Die Fussballen brennen etwas. Nach 200 Kilometern darf das auch sein. Das gestatte ich ihnen. Sie werden bis ins Ziel auf den verbleibenden Asphaltstrecken noch viel mehr brennen. Es liegen noch etwa 50 Kilometer vor uns. Ich denke an Igor’s Worte: wenn du dann nur noch 50 Kilometer vor dir hast, dann zieh durch. Keine langen Pausen mehr. Danke mein Freund. Weiss jetzt noch nicht, ob ich darüber weinen oder lachen soll.
Ich muss weiter. Stillstand ist Rückschritt. Wie ein Getriebener bin ich, sobald sich die Augen öffnen. Es ist ein Uhr nachts. Die unterschiedlichsten Gedanken gehen mir durch den Kopf. Immer wieder das Bild mit dem Zieleinlauf vor Augen. Und ein Bier. Wenn ich mich jetzt absetzen kann, habe ich den zweiten Platz sicher. Es kann noch viel passieren auf dem Rest der Strecke. Aber nicht bei mir. Zur Not krieche ich auf dem Zahnfleisch weiter. Bis hierher hatte ich noch keinen negativen Gedanken. Und das sollte auch bis ins Ziel so bleiben. Wie schon erwähnt, wird der Strassenanteil mit Teer jetzt höher. Das ist einfacher zum Navigieren, geht aber auch in die Knochen. Ich fliege durch die Nacht.
Am letzten Checkposten empfängt mich Volunteer Émile bereits von weitem winkend. Die indischen Helfer liegen im Zelt und schnarchen. Er bekommt sie nicht wach. Also Wasserflaschen selbst auffüllen. Auf Französisch versucht er mich immer wieder dazu zu überreden, etwas zu essen oder mich kurz hinzulegen. Essen habe ich noch reichlich im Rucksack. Viel zu viel mitgeschleppt. Habe mich die letzten Stunden nur von Datteln, Erdnüssen und ein paar Gel ernährt. Dazu Maurten flüssig. Und viel Wasser. An den CP’s mal ein Schluck Cola. Vor der letzten Etappe brauche ich jetzt auch nichts Festes mehr. Also weiter. One Foot in front of the other.
Die Sonne geht auf. Schon wieder. Sehr beeindruckend in Indien. Sie schnellt als riesiger oranger Ball am Horizont empor. Und wärm sofort. In den Nachtstunden fällt die Temperatur bis auf 13/14°C. Das ist angenehm zum Laufen. Ich stehe vor einem Fluss. Dem Breitesten des gesamten Lauf’s. Suche mir eine flache Stelle zum Durchqueren. Spielt aber eigentlich auch keine Rolle. Die Socken und Schuhe sind nass seit der ersten Flussquerung. In Verbindung mit dem Schweiss ist das nie getrocknet. Da hilft nur die richtige Fusskrem. Ich habe mir auch bei diesem Rennen hier keine Blase geholt. Gehwol sei Dank.
Wenn du bis zu den Knien durch einen Fluss wadest, kommen dir die Gedanken nicht. Später im Hotel habe ich mal gegoogelt, ob es in Indien Krokodile gibt. Es gibt alles von Raubkatzen über Schlagen bis Elefanten. Warum also keine Krokodile? Tatsächlich. 2018 wurde ein Einheimischer von einem Krokodil verschluckt. Verschluckt. Während die Dorfbewohner zusahen und nichts machen konnten. Irgendwo in Rajasthan. Nicht hier. Nicht in dem Fluss, den ich grad durchquere. Beruhigend, dass ich das erst später recherchiert habe…
Noch 20 Kilometer. Nicht einmal mehr ein Halbmarathon. „Oh nein“, schiesst es mir durch den Kopf. Jetzt bin ich halb um die Welt geflogen und das Erlebnis ist schon bald vorbei? Wo ist der Mann mit dem Hammer geblieben? Gemäss geläufiger Theorien kommt der bei Kilometer 30 etwa. Hätte mich also achtmal erwischen müssen. Wie durch ein Wunder bin ich ihm entkommen. Mirakulös. Glaubt mir. Es gibt diesen Mann nicht. Gutes Vorbereitungstraining und richtige mentale Einstellung und du lernst diesen Typen nie kennen.
Die Gegend hier kommt mir bekannt vor. Durch die Ortschaften bin ich schon einmal gelaufen. Die Kinder dort vor dem Haus habe ich schon fotografiert. Ich drehe mich um und bin mir zu 100% sicher, hier war ich schon einmal. Das geht eine ganze Weile so. Also doch noch ein kleiner Anflug von Halluzinationen. Getreue Begleiter bei Ultralangdistanzen. Ich habe euch schon vermisst.
An der Ortsgrenze von Ghanerao angekommen, fliege ich weiter über den Asphalt. Es läuft in Indien. In bin nicht zu stoppen. Beim Blick auf die Uhr muss ich schmunzeln. Was steht da? Tempo 15.24min/km? Das ist doch ein Scherz. Schlechtes GPS Signal vermutlich. Ein paar Minuten später riskiere ich nochmal einen Blick. Es hat sich nichts geändert. Mein Gefühl vom Fliegen täuscht also derart. Solange ich kurz vor dem Ende noch darüber lachen kann, ist alles gut.
Und dann bekannte Gesichter. Fotoreporter Jean-Pierre und unser lokaler Guide Ram warten am Strassenrand auf mich. Sie begleiten mich auf dem letzten Kilometer bis zum Ziel. Vorbei an all den kleinen Läden mit dem geschäftigen Treiben wie vor drei Tagen. Adrenalin schiesst durch den Körper. Noch zwei Kurven und ich sehe das Schloss. Im Innenhof empfangen mich ein paar Helfer. Und Jean-François. Wir liegen uns in den Armen. Er hatte Recht mit der Prophezeiung, dass der 2. Platz für mich drin liegt. Und jetzt bin ich genau da angekommen. Nach 52 Stunden 22 Minuten. Vier Stunden hinter dem überragenden Sieger Emanuel. Auf Véro und Vincent habe ich noch fünf Stunden herausgeholt. Sie teilen sich den 3. Podestplatz. Von 28 gestarteten Teilnehmern haben 26 das Ziel erreicht. Die letzten in 106 Stunden 4 Minuten. Chapeau!
Geschafft. Meine Füsse sind etwas strapaziert. Die Haut hat sich durch die ständig wechselnden Wasserdurchquerungen und die unendlichen Teerpassagen etwas verschoben. Die Ballen tiefrot. Zwei Tage Pflege und das ist vergessen. Die Dornenreste in den Schienbeinen zu entfernen, dauert länger. Auch nach fast einer Woche entdecke ich immer noch kleine schwarze Spitzen der hartnäckigen Gewächse unter der Haut. Muskulär und orthopädisch hatte ich weder während des Lauf’s noch danach irgendwelche Einschränkungen. Es geht mir überraschend gut. Das Sitzen im Flieger bei der Rückreise wird deutlich anstrengender.
Das war das längste Laufabenteuer meines Lebens. Ein einmaliges Erlebnis, dass es so nie wiedergeben wird. Der Ultra Run Rajasthan 2019 bleibt die einzige Austragung in Incredible India.
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